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Romanice
Herausgegeben von Reinhard Krüger
 

Krüger, Reinhard: Literatur und sozialer Kontext. Studien zur politischen Ästhetik im siècle classique
(Romanice 5)
ISBN 3-89693-705-7 (06/2001)
416 Seiten, 28 Abb., Ebr., EUR 35,00

Hinter dem oberflächlichen Glanz des siècle classique, das in der Rückschau (spätestens seit Voltaires berühmtem Essai Le Siècle de Louis XIV) vielfach auf die Zeit der persönlichen Herrschaft von Louis XIV reduziert wird, hinter der Vorstellung vom alles beherrschenden Prinzip der raison d’etat und des Absolutismus zeigen sich bei näherer Betrachtung soziale und politische Verwerfungen der französischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, die sich auch in ästhetischer und sprachkünstlerischer Programmatik und Praxis manifestieren.
Sobald man den Blick von den grands classiques abwendet und sich dem Gesamt der literaturhistorischen Konstellationen des 17. Jahrhunderts zuwendet, erscheinen ganz andere Konturen als jene, die man auf der ausschließlichen Betrachtung der Leistungen Corneilles, La Fontaines, Molières, Racines oder Boileaus erkennen kann.
Es scheint so, daß die französische Literatur dieser Zeit einmal von dem grundlegenden Konflikt zwischen epischen (also ritterlich-aristokratischen) und dramatischen (also eher politischen) Visionen von Gesellschaft und deren poetisch vorgeführter Idealbilder geprägt war.
Zum anderen spielt der Vorgang der Säkularisierung des merveilleux, das neben der vraisemblance als die wichtigste poetische Kategorie gerade in der Zeit nach dem Konzil von Trient eine besondere christliche Nuancierung erfuhr, eine hervorragende Rolle bei der Verweltlichung der Lebens- und Weltauffassungen in Frankreich überhaupt.

Inhalt

Einleitung
I. Öffnung der Epochengrenzen und neue Impulse zur Erforschung der Literatur des siècle classique
1. Literatur als symbolische Form
2. Gesellschaftsstruktur und Literatur
3. Die doctrine classique und der Erfolg des Regelverstoßes
4. Die grands classiques und ihr Verhältnis zur doctrine classique
5. Literatur und Politik im 17. Jahrhundert
6. Die kulturgeschichtliche und anthropologische Perspektive
7. Gemeinsamkeiten mit dem 16. Jahrhundert: die Dramatik
8. Gemeinsamkeiten mit dem 16. Jahrhundert: der Konflikt zwischen epischer und dramatischer Gesellschaftsvision
9. Kontinuitäten zum 18. Jahrhundert: das weltliche merveilleux
10. Neue Forschungsperspektiven
Ein Präludium im 16. Jahrhundert
II. Katharsis und Politik in Jean de la Tailles De l’art de la tragédie (1572)
1. Die Theaterreform um 1630 und der Umgang mit der Vergangenheit
2. Ein Reformprojekt um 1572
3. Die Kunst der Tragödie und die guerres civiles
4. Die politische Funktion der Tragödie
5. Kriegerisches Lebensideal und sozialer Frieden
6. Die Tragödie als Alternative zur Epik
7. Katharsis und Leidenschaften
8. Bühnenwirklichkeit und gesellschaftliche Wirklichkeit
9. Eleos und phobos bei Aristoteles
10. Leidenschaften als Artikulationen sozialer Interessen und die Parteipolitik
11. Die politische Funktion der Katharsis
12. La Tailles Kritik des Epischen
13. eleos als Gegenkategorie der admiration
14. Eine Dramatik à l’exemple des choses humaines
15. Die Bartholomäusnacht und das Ende des kathartischen Politikmodells
Richelieu und die Académie française
III. Der honnête-homme als Akademiker. Nicolas Farets Projet de l’Académie (1634) und seine Voraussetzungen
1. Eine neue Quelle zur Vorgeschichte der Académie française
2. Die prekäre Balance von plume und épée
3. Vom Cortegiano zum honnête-homme – vom enzyklopädischen zum nicht-spezialisierten Wissen
4. Honnêteté und Akademiebewegung als bürgerliche Karrierestrategien
5. Vom Honnête-homme zum Projet de l‘Académie
6. Zur Soziologie und symbolischen Funktion des Wissens im 17. Jahrhundert
7. Die utilité des Wissens und die kulturelle Hegemoniepolitik
8. Das Projet und Frankreichs kulturelle Überlegenheit in Europa
9. Ein Wörterbuch, aber keine Grammatik, Rhetorik und Poetik
10. Die universelle Gültigkeit der Redekunst
11. Farets Stellung zu den anderen Wissenschaften und die Kriterien für die Akademiemitgliedschaft
12. Die Etablierung eines akademisch-höfischen ‚Soziolekts‘
13. Die rota vergilii als linguistisches Ständemodell
14. Die Aufhebung der Grenzen von Alltagssprache und Literatursprache
15. Richelieus Pläne für die Akademie
16. Die Querelle du Cid und die Autonomie des sprach- und literaturkritischen Diskurses
Louis XIV, Colbert und Molière
IV. Die Hieroglyphen des Königs. Desmarets de Saint-Sorlins Kartenspiele für die Erziehung des jungen Louis XIV (1644)
1. Die Geburt von Louis XIV als staatssicherndes Ereignis
2. Prinzenerziehung als Staatsaufgabe
3. Desmarets‘ Beschreibung des Jeu de la Géographie
4. Die Spielkarten als Bild-Text-Objekte
5. Der emblematische Charakter der Karten
6. Emblematik, Hieroglyphik und neuplatonische Bildkonzepte
7. Die Schrift der Dinge: Diskursivität und Ideographie in neu-platonischer Tradition von Plotin bis Ficino
a. Plotin
b. Martianus Capella
c. Alanus ab Insulis
d. Ficino
8. Didaktische Funktion des Bildes
9. Die Struktur des Herrschaftswissens
10. Die zukünftige Spitzenstellung von Louis XIV in der Geschichte
V. Molières Tartuffe: Sprachkunst und die Kunst der Politik im absolutistischen Frankreich
1. Tartuffe zwischen Religion und Politik
2. Ein Thema wird verschwiegen
3. Die sozialen Konturen Tartuffes
4. Zur Geschichte der cabale des dévots
5. Erste Enthüllungen
6. Sprachregelungen über Tartuffe
7. Der devote Bürger
8. Der Raum des Dramas als künstlerischer Operator
9. Der bürgerliche Haushalt im Brennpunkt des Geschehens
10. Der Pyrrhussieg Molières
VI. Molières Tartuffe und die Fronde. Über das Verhältnis von Finanziers, Armenfürsorge und Politik
1. Molière als libertinistischer Religions-Kritiker?
2. Der Tartuffe als Molières Antwort auf Corneilles Fronde-Drama Dom Sanche d’Aragon
3. Die Finanziers und ihre gefährlichen Papiere
4. Impulse zur Verwandlung des Rentenkapitals in Handelskapital
5. Das Beispiel Robert Challes: vom Finanzier zum Fernhändler
6. Die geheimnisvolle Kassette Orgons
7. Armut, charité und Aufstände: Die ‚Tartuffes‘ während der Fronde
8. Armenfürsorge und politische Opposition
9. Almosenvergabe und politische Macht
10. Die Aktivitäten der Compagnie während der Fronde
11. Das Fortwirken der Compagnie in den 1660er Jahren
Zur Vers-Epik
VII. Politische Lektüre einer poetischen Debatte. Der Joconde-Streit zwischen Boileau, Bouillon und La Fontaine
1. Poetisches Regelwerk und die Innovation
2. La querelle de Joconde
3. Die Finanziers und ihre gefährlichen Papiere
4. Bouillons Verteidigung des preziösen Geschmacks
5. Das königliche Personal der Bouillonschen Joconde-Fabel
6. Der Vergleich zwischen Ariost und Bouillon
7. Bouillons Veränderungen des Joconde-Stoffs
8. Bouillons Rekonstruktion der epischen Form
9. Darf ein König abdanken?
10. La Fontaines Joconde-Fassung
11. La Fontaine und Fouquet
12. La Fontaines neue Version
13. Ästhetische und politische Gründe für La Fontaines Neufassung
14. Boileaus Urteil
15. Imitation und invention als Kategorien im ästhetischen Urteil Boileaus
VIII. Vermischtes zur Vers-Epik (Heinrichsepik und Georges de Scudérys Alaric)
1. Heinrichsepik
2. Georges de Scudéry: Alaric, ou Rome vaincue
Versailles
IX. Das Sehen beobachten: La Fontaines Les amours de Psyché et de Cupidon und die Lust zu Sehen
1. Hybride Sprachkunstwerke
2. Apuleius‘ Asinus aureus als Prätext
3. Die Neuheit des neuen Textes
4. Psychoanalytische, strukturalistische oder historisch-hermeneutische Lektüre?
5. Das Sehen als sozialer Akt
6. Die Seh-Schule der Psyche
7. Kritik der preziösen Liebeskonzeption
8. Das Fortleben des Motivs
X. Vaux-le-Vicomte, Versailles und die unendliche Welt im absolutistischen Frankreich, oder: inszenierte Natur als Fortsetzung der Politik mit gartenbautechnischen Mitteln
1. aut delectare aut prodesse im Nutzgarten
2. Die ästhetische Sublimation des Nutzgartens im mythischen Garten
3. Der Körper des Königs und sein Garten
4. Lesbare Gärten und divergierende Raumkonzepte: Versailles versus Vaux-le-Vicomte
5. Der Herrschaftsgarten als Teppich und Mosaik: Hypothese über die Tradition eines Konzepts
6. Versailles als Vorbild für Sans-Souci?
7. Inszenierte Natur und absolutistischer Herrschaftsraum
8. Epilog: Bernardin de Saint-Pierres Paul et Virginie oder Naturgärten und Paradiese im Ruinenzustand
Säkularisierungen des merveilleux im 17. Jahrhundert
XI. Tradition und Innovation in der Querelle des Anciens et des Modernes
1. Die artistische Moderne und das Grundverhältnis von Tradition und Innovation
2. Aspekte von Tradition und Innovation in der Frühen Neuzeit: Castiglione und Du Bellay
3. Théophile de Viaus Theorie der ressemblance zwischen Alten und Modernen
4. Erasmus von Rotterdam vs. Giulio Camillo Delminio und die zwei verschiedenen imitazioni
5. Tassos imitatio-Lehre
6. Charles Sorels Innovationslehre
7. Die Konstellation der französischen Querelle
8. Colberts Reformen: Wirtschaftliche Dynamisierung des Landes und neue Maßstäbe des Handelns
9. Die Wiederherstellung der kulturellen Hegemonie der Krone
10. Das Tridentinum und die Aporien des christlichen merveilleux
XII. Perraults Erzählungen und die Metamorphosen des merveilleux im 17. Jahrhundert
1. Die contes de fées, nur eine literarische Mode des 17. Jahrhunderts?
2. Säkularisierung und ‚Rhetorisierung‘ des merveilleux
3. Perraults Le Miroir ou la métamorphose d’Orante (1661)
4. Vom merveilleux épique ...
5. ... zum merveilleux, dit féerique
XIII. Das merveilleux der Texte und Handlungen – säkularisierte Ästhetik und Pragmatik im 17. Jahrhundert
1. Das Epos, die Raum- und Bewegungsproblematik und das Wunderbare
2. René Rapins Theorie des antiheroischen sublime der Taten
3. Michel de Marolles: Historizität der machines und Kunstautonomie
4. Segrais: Die antiken machines, das akzidentelle merveilleux und die Gefahr des Komischen
5. René Rapin: Die Religion sichert nicht die artistische Qualität des Kunstwerks
6. Carel de Sainte-Garde: das Wunderbare liegt in der Struktur des Textes
7. Die Säkularisierung des merveilleux als frühaufklärerischer Impuls
Ausblicke auf das 18. Jahrhundert
XIV. Le crime merveilleux im 18. Jahrhundert. Literaturgeschichtliche und philosophische Voraussetzungen eines Begriffs
1. Sensationen und neuartige Wahrnehmungen von Verbrechen
2. “Cette machine compliquée qu’on appelle société” oder die Ästhetik der Gesellschaftsmaschine
3. Der beau désordre
4. Das Ungewöhnliche und die Störung der Ordnung: Kometen und Verbrecher
5. Irdische Neugier und himmlische Wunder
6. Schmerzhaftangenehme Empfindungen
7. De Sade: Das Verbrechen als Kunstwerk
8. Verbrechen und Wunder: die neue Konfiguration des Sensationellen
Bibliographie