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Romanistik
 

 
Romanice
Herausgegeben von Reinhard Krüger
 

Ottmann, Tanja: Spektakel, Situation und Spiegel. Soziale Poetik und Überwindung des Gesellschaftszustandes am Beispiel der Situationistischen Internationale
(Romanice 26)
ISBN 978-3-89693-726-1 (09/2012)
306 Seiten, 28 Abb., Kt., EUR 44,00
 
Wir leben im Zeitalter der „notleidenden Banken“, „der Abwrackprämien“ und des „Eurorettungsschirmes“. Sicher schimmert auch durch diese recht spektakulären Euphemismen hindurch, dass die Mechanismen der Gesellschaft und Wirtschaft neu zu überdenken sind. Doch wie beschreibt man eine Gesellschaft, deren Teil man ist und deren Paradigmen man verinnerlicht hat?
Die Situationistische Internationale ist eine Gruppierung, die diesen Versuch bereits vor über 45 Jahren unternommen hat. Sie entwickelte eine umfassende und detaillierte Kritik des Alltagslebens samt seiner wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und räumlichen Strukturen. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ein revolutionäres Bewusstsein durch die Konstruktion von Situationen zu erzeugen. Durch einen bestimmten Aufbau, der technische Mittel einsetzte, um bestimmte Überraschungseffekte zu erzeugen, sollten Menschen in eine Situation verwickelt werden, die sie dazu bringen sollte, selbst aktiv zu werden und vorgegebene Strukturen zu überwinden.
Die Interpretationspanne der Situationistischen Internationale in der Forschung ist dementsprechend weit. Sie reicht von der Wahrnehmung der SI als eine unbekannte, radikale Randgruppierung bis hin zur künstlerischen und beinahe gesellschaftsfähigen Avantgarde. Im Gegensatz dazu stellt diese Arbeit die SI zuerst vor den sozio-kulturellen Hintergrund und untersucht, welche Inhalte die SI hatte und welche Ziele sie verfolgte. Dabei wird auch erörtert, ob die SI, wie zunächst vermutet werden mag, in ihrer Radikalität die Gesellschaft nur durch die Brille ihrer eigenen Ideologie wahrnahm. Hierzu erfolgen im Lauf dieser Untersuchung mehrere Exkurse, denn erst der Einblick in die Werke verschiedenster Künstler und Wissenschaftler wie Edward Bernays, Roland Barthes, Noam Chomsky oder Frantz Fanon ermöglicht, einen weiten sozio-kulturellen Horizont aufzuspannen. Des Weiteren zeigt diese Arbeit, dass die SI mit dem Prinzip der inszenierten Situation einen neuen, virtuellen Raum öffnete. Durch Manifeste und andere Veröffentlichungen in ihrer Zeitschrift internationale situationniste erfolgte die poetische Antizipation einer neuen Realität, die später in den Maiereignissen tatsächlich eintrat.

Inhalt
 
1 Kapitalismus in Krisen? – Problemstellung

1.1 Musealisierte Avantgarde oder Gruppierung des Untergrunds? – Forschungsstand
2 Kulturgeschichtlicher Horizont ab 1945
2.1 Frankreich zwischen Erinnerung und Neubeginn
2.2 Frankreichs innenpolitische Neudefinition und außenpolitische Selbstplatzierung
2.2.1 Die Instabilität der IV. Republik und der ‚Stolperstein‘ Algerien
2.2.2 Am Rande der Demokratie? – die V. Republik
2.2.3 Exkurs in eine radikale Gesellschaftskritik und gewaltpropagierende Revolutionstheorie: Frantz Fanon: Les damnés de la terre
2.3 Die französische Wirtschaft im Aufbau: Babyboom, Beatmusik und HLMs
2.3.1 Kapitalismus oder Planwirtschaft? Frankreichs besondere Kombination
2.3.2 Ungleicher Wohlstand in ungleichem Wachstum
2.3.3 Bevölkerungswachstum und demographische Veränderungen
2.4 Urbanisierung und funktionalistische Architektur
3 Unbequeme Nachkriegskinder – die Avantgarden: Zerstörung, Antikunst und Skandale
3.1 Die Vorläufer der Situationistischen Internationale: Dadaismus, Surrealismus und Lettrismus
3.2 Die Entstehung der Lettristischen Internationale
3.3 Die Lettristische Internationale – Bruch oder Kontinuität?
3.4 Von der Lettristischen Internationale zur Situationistischen Internationale
3.5 Der Abnabelungsprozess: Die Situationistische Internationale auf ihrer Identitätssuche
4 Die Gesellschaftskritik der Konsumgesellschaft
4.1 Die Gesellschaft des Spektakels
4.1.1 Die Kritik an der hierarchischen Klassengesellschaft
4.1.2 Kritik an der kapitalistischen Form von Arbeit und Freizeit
4.1.3 Exkurs in die Theorie der Verschwendung
4.1.4 Die Kritik an der Objektwelt (Gebrauchswert und Tauschwert)
4.1.5 Exkurs: Das Spektakel aus der Sicht eines Semiotikers: Roland Barthes’ Mythologies
4.1.6 Die Kritik an der kapitalistischen Organisation der Zeit
4.1.7 Das konzentrierte und diffuse Spektakel – die Unterdrückung der Menschen
4.2 Politische und soziologische Gesellschaftskritik (Chomsky)
4.3 Die skandalöse Gesellschaftskritik eines Multitalents: Boris Vian
4.4 Die Kritik der bürgerlichen Ordnungsstrukturen durch eine neue Erzählform: Alain Robbe-Grillet und der nouveau roman
5 Die Situationistische Internationale und die Kommunikation
5.1 Die mediale Situation in Frankreich in den fünfziger und sechziger Jahren
5.1.1 Das Radio: Informationsbote oder Informationsfilter?
5.1.2 Das Fernsehen: Unterhaltungsmedium im Pluralismus oder kontrolliertes Organ?
5.1.3 Schleichender Eingang mit großer Wirkung: Die Werbung
5.2 Die Kritik der SI an der Kommunikation der Gesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre
5.3 Kommunikation und Kulturelle Grammatik
5.4 Kommunikationsguerilla
5.5 Eine subversive Kommunikation: die Zweckentfremdung
5.6 Exkurs in die Manipulation der Massen: Die Propaganda nach Edward Bernays
5.7 Die Propaganda und das Spektakel in Marcel Mariëns Weltrevolution in 365 Tagen
5.8 Die situationistische Verwendung von Kommunikationsmitteln
6 Die Situation
6.1 Die situationistische Definition der Situation
6.2 Die Inszenierung einer Situation
6.3 Der situationistische Mikrokosmos am Beispiel eines Labyrinths
6.4 Das situationistische Spiel
6.5 Die Situation als Experiment
6.6 Von der Situation zur Revolution
6.7 Die experimentelle Universität
7 Die SI und die Sprache
7.1 Sprachkritik und Sprachskepsis
7.1.1 Die Manipulation der Sprache
7.1.2 Die manipulierte Sprache aus der Sicht von Roland Barthes
7.1.3 Analyse des situationistischen Sprachgebrauchs
7.1.4 Die Kraft der Sprache in der Poesie
7.1.5 Das situationistische „aventure poétique“: Das „Vorausahmen“ einer Revolution
8 Die SI zwischen Antikunst und Aktionskunst (Entwicklungsgeschichte)
8.1 Die Zerstörung der kommerzialisierten Kunst und Entwicklung situationistischer Antikunst
8.2 Künstlerische Haltungen in der SI
8.2.1 Vaneigem: Das leidenschaftliche Leben als Kunst
8.2.2 Asger Jorns entwendete Malerei
8.2.3 Gallizios industrielle Malerei
8.2.4 Die Gruppe SPUR (1957-1966)
8.3 Das Kohärenzzentrum und extreme Positionen
8.3.1 Alexander Trocchi und Guy Debord
8.4 Die Abkehr von der situationistischen Kunst hin zur reinen Theorie
8.4.1 Die Ausstellung im Stedeljik-Museum
8.4.2 Die situationistische „Vorausahmung“
8.4.3 Die Haltung zur Kunst wird zum Ausschlusskriterium
8.4.4 Avantgarde oder kapitalistische Rekuperation?
8.4.5 Der Nouveau roman
8.4.6 Die Groupe de Recherche d’Art Visuel
8.4.7 Das happening
9 Die situationistische Kritik an der modernen Großstadt und ihre architektonischen und urbanistischen Utopien
9.1 Die Psychogeographie und das Umherschweifen
9.1.1 Psychogeographische Analyse eines Pariser Viertels
9.2 Die Kritik an der städtischen Raumordnung
9.3 Architektonische Utopien und neuer Urbanismus
10 Die Maiereignisse 1968 – die Verwirklichung eines situationistischen Entwurfes?
10.1 Die Antizipation der Maiereignisse in den Werken der SI
10.2 Die SI tritt in das Licht der Öffentlichkeit: Der Straßburger Skandal
10.3 Die Ausgangslage der Studenten und Jugendlichen
10.4 Die Broschüre De la Misère en Milieu Étudiant […]
10.5 Die Studenten- und Arbeiterbewegung in Nantes
10.6 Die Maiereignisse in Paris
10.7 Die situationistische Ansicht der Maiereignisse
10.8 Mai 1968 als verwirklichte Situation?
10.9 Das Modell der generalisierten Selbstverwaltung
10.10 Spontane Organisationsformen an der Sorbonne und in besetzten Fabriken – eine Verwirklichung der generalisierten Selbstverwaltung?
10.11 Die Reaktion der Politik
10.12 Mai ‘68 – erfolglose Farce oder nachhaltige Revolution?
11 Schlussbetrachtung
 
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis

Primärliteratur
Sekundärliteratur