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Bögershausen, Karl-Heinz: Ministrant, Pimpf, Frontsoldat. Eine Jugend in
Deutschland ISBN 3-933664-14-4 (09/2002) 200 Seiten, Ebr., EUR 15,50 / SFr 27,60
Seine Jugend in Deutschland läßt Karl-Heinz Bögershausen in seinem Buch Revue passieren,
äußerst bewegte dramatische Jahre. 1925 in Hildesheim geboren, wächst das älteste von sechs Kindern in bescheidenen Verhältnissen auf. Seine Eltern schaffen es aber, sich im Laufe der Jahre ein eigenes Haus zu
erarbeiten, und Karl-Heinz wagt den Schritt zu einer "höheren" Bildung: Justizinspektor, Rechtspfleger will er werden. Der Zweite Weltkrieg jedoch setzt seiner Ausbildung ein vorzeitiges Ende, und so
zieht er ins Feld, statt ins Gericht. Jahre später glücklich nach Hause zurückgekehrt, muß er sich in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit mühsam eine eigene Existenz aufbauen, sich vom autoritären Vater lösend.
Als seine Freundin ein Kind erwartet, ist die Jugend für Karl-Heinz Bögershausen zu Ende. Sein autobiographischer Roman setzt die Erlebnisse und Ansichten der Jugend mit den Erkenntnissen nach einem halben
Jahrhundert leben in der Demokratie in ein kritisches Verhältnis. Ein Stück Zeitgeschichte wird auf anschauliche Art und Weise verständlich.
Leseprobe
Mitte Oktober 1943 war Scharfschießen angesetzt, Karabiner – stehend freihändig, stehend
aufgelegt. Das Gleiche kniend und liegend. Entfernung 50 Meter auf Zwölfer-Ring-Scheiben. Dieser Tag auf dem Schießstand entsprach so richtig meinen Vorstellungen vom Soldatenleben. Ich fühlte mich in meinem
Element. Und war am Ende dieses Tages bester Schütze der Kompanie. Nachdem wir auf Stube unsere Waffen gereinigt und unser Abendbrot gegessen hatten, mußte ich einen ausgeben. Zum Frühappell am nächsten Morgen
stand der Kompaniechef persönlich vor seinem Haufen. Das war selten. Ich mußte vortreten. „Panzerschütze Bögershausen hat sich als bester Schütze der Kompanie erwiesen. Zum Wochenende bekommt er Sonderurlaub,
Freitag ab Dienstschluß bis Montag zum Wecken.“ Ich stand wie versteinert da, riß meine gestreckte rechte Hand an die Kopfbedeckung, glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. Die Kompanie schrie auf
Befehl des Spießes dreimal „Hurra!“ Das war am Donnerstag. Ich badete im Neid meiner Kameraden. Freitag, im Laufe des Nachmittags, wurde mir eine schwarze Panzeruniform verpaßt. Endlich hatte ich
die Uniform, von der ich seit meiner Freiwilligenmeldung geträumt hatte. Bevor ich die Kaserne verlassen durfte, begutachtete mich der UvD. In strammer Haltung, Hände an der Hosennaht, mußte ich mich langsam
vor dem Diensthabenden drehen, dreimal. „Jetzt nur nicht auffallen“, dachte ich. „Der versaut dir deinen Urlaub.“ Der UvD betrachtete mich, die rechte Hand nachdenklich am Kinn, übertrieben
kritisch. Dann klopfte er mir lächelnd auf die Schulter: „Siehst gut aus, Junge. Wegtreten! Und schönen Urlaub.“ Auf dem Absatz machte ich eine zackige Kehrtwendung. Ich war überzeugt: So sauber hatte ich
die noch nie hingelegt. Mit dem Zug kam ich um 23.45 Uhr in Hildesheim an und machte mich zu Fuß auf den Weg nach Nettelbeckshöhe. Die Stadt lag in tiefster Finsternis. Straßenlaternen waren nicht
eingeschaltet, alle Fenster mit Rollos oder schwarzem Papier verdunkelt – Luftschutzmaßnahmen. An der Adolf-Hitler-Straße, die vom Bahnhof bis zum Paul-von-Hindenburg-Platz führte, schimmerte aus einem
Fenster ein schmaler Lichtstreifen. Eine kräftige männliche Stimme zerriß die Stille dieser späten Stunde: „Licht aus!!“ Am Haus Nettelbeckshöhe waren die hölzernen Fensterklappen geschlossen. Auch hier
herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bis auf mein Läuten die Tür geöffnet wurde. Papa stand vor mir, mit offenem Mund, wie damals ich im Oktober 1939 bei seiner Rückkehr vom
Westwall. „Du?“ Er machte die Tür weiter auf. „Komm rein.“ Mama saß im Wohnzimmer, hatte das Baby an der Brust. „Wie kommt’s, daß du hier bist?“ „Habe Wochenendurlaub, war bester
Schütze der Kompanie beim Scharfschießen. Prima – was!“ Papa knuffte mich anerkennend in die Seite. „Gratuliere.“ Seine Hand wies auf Mama und das Baby: „Das ist Uschi, deine jüngste
Schwester. Nun seid ihr sieben.“ Ich ging zu Mama, küßte ihre Stirn, streichelte Uschi’s kahles, warmes Köpfchen. „Wann ist sie geboren?“ fragte ich. Mama antwortete mit einem glücklichen
Lächeln. „Am Ersten“, und setzte die allen Müttern bei solchen Gelegenheiten geläufige Frage hinzu: „Hast du Hunger?“ Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich an den Tisch. „Die anderen schlafen
schon?“ Papa nickte, sah auf seine Taschenuhr. „Es ist Mitternacht vorbei. Wenn du möchtest, wecke ich sie.“ Ich winkte ab: „Laß sie schlafen. Wir sehen uns ja morgen.“ „Ich habe noch
zwei Flaschen Bier im Haus. Möchtest du eine? Oder lieber ein Glas Himbeersaft?“ Ich wollte Bier. Papa ging in den Keller. Mama betrachtete mich eingehend. Ihre Augen wanderten von meinem Kopf hinunter
zu den Stiefeln, den Knobelbechern. „Die schwarze Uniform steht dir gut. Sie würde mir noch besser gefallen, wenn am Kragen die Totenköpfe nicht wären.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Dein Gesicht
ist härter geworden, das Jungenhafte darin ist weg. Und dünn bist du, hast nichts auf den Rippen. Nur Haut und Knochen.“ Ich hob die Schultern. „Der Dienst ist anstrengend.“ Mama stand auf. „Muß
Uschi frisch windeln.“ Sie ging hinüber ins Schlafzimmer. Ich folgte ihr, betrachtete Uschi, die auf Mamas Bett lag und munter mit den Beinchen strampelte. Obwohl ich alle meine Geschwister als Baby
erlebt hatte, verspürte ich hier ein eigenartiges, mir unbekanntes warmes Gefühl für dieses Menschenjunge. Ich war achtzehn Jahre älter als dieses Baby, hätte – biologisch – sein Vater sein können. Im
Wohnzimmer hatte Papa sich an den Tisch gesetzt. Er schob mir das gefüllte Bierglas zu, hob seines: „Auf deinen Urlaub.“ Ich prostete ihm zu: „Auf uns alle, ganz besonders auf Klein-Uschi.“ Ich
begann von Bielefeld zu erzählen. Papa gähnte. „War ein harter Tag für mich, bin saumüde. Ich muß schlafen.“ Bevor ich mich ins Bett legte, warf ich einen Blick auf meine Brüder Gerhard und Klaus.
Günter hatte am 27. August, eine Woche, nachdem er siebzehn geworden war, nach Harderwayk in Holland fahren müssen, seinem Einberufungsbefehl zur Division „Hermann Göring“, zu der auch er sich freiwillig
gemeldet hatte, gehorchend. In meinem Bett schlief ich herrlich. War doch was anderes als der Strohsack in der Kaserne. Und kein unsanftes Wecken durch die UvD-Pfeife. Am Morgen wurde ich weit unsanfter
geweckt. Mein siebenjähriger Bruder Klaus rüttelte an meinen Schultern. „Mensch, Kalle, was machst du denn hier?“ Ich rieb verschlafen meine Augen. „Habe Wochenendurlaub.“ Auch Gerhard und
Irmchen staunten nicht schlecht, mich zu Hause zu sehen. Zum Frühstück hatte Mama für uns alle Eier gekocht. „Ist doch ein besonderer Tag heute“, sagte sie lächelnd zu mir. „Du hast deinen ersten
Urlaub.“ An unserem Familientisch erst fühlte ich mich wirklich zu Hause. „Scheiße, daß ich zur Schule muß“, murrte Klaus. „Ich nehme dich auf meinem Fahrrad mit“, zeigte Gerhard sich
großzügig. „Und hole dich nachher wieder ab.“ Im Schlafzimmer forderte Uschi lauthals Nahrung. Monika, die von Irmchen oben im Bad gewaschen wurde, schrie: „Ich will zu Kalle.“ Gerhard, der mit
seiner Kommandierung zu einer Flak-Batterie der HJ rechnete, wollte am meisten von mir wissen. Ich konnte mich kurz fassen, schilderte ihm den Tagesablauf beim Kommiß in wenigen Sätzen. „Du bist der letzte
Arsch.“ Zum Mittagessen am Sonntag mußten drei Hühner ihr Leben lassen. Ich nahm den Zug am frühen Abend, kam kurz vor Mitternacht in der Kaserne an. Am nächsten Morgen mußte ich meine schwarze Uniform
auf der Kleiderkammer wieder abgeben. Anfang Januar 1944 fragte der Spieß beim Morgenappell: „Wer kann Schreibmaschine schreiben?“ Ich hob meinen Arm, sah mich um. Außer mir konnte das offenbar
niemand. „Sie melden sich nach dem Wegtreten in der Schreibstube!“ Den ersten Schreiber, Unteroffizier Lothar Ehlers, kannte ich schon, den Gefreiten Fritz Pohl auch. Ich schlug die Hacken zusammen:
„Panzerschütze Bögershausen meldet sich zum Schreibstubendienst.“ Der erste Schreiber ließ sich von dem Gefreiten Pohl meine Wehrstammrolle geben, warf einen kurzen Blick hinein und sah mich
an. „Rechtspflegeranwärter. Was ist das denn?“ Mit meiner kurzen Erklärung gab er sich zufrieden und wies mir einen Platz an einer Schreibmaschine zu. Von diesem Tage an hatte ich einen feinen Lenz,
schob, im Vergleich zu den vergangenen Monaten, eine angenehm ruhige Kugel. Der größte Teil unserer Ausbildungskompanie wurde Mitte Februar zur Marschkompanie versetzt. Sie kamen zu Kampfeinheiten an die
Front. Als „Schreibstubenhengst“ blieb ich bei der Fünften. Zwei Tage vor dem 1. Mai befahl mich der Spieß auf seine Stube. Ich ahnte nichts Gutes. Es kam anders, als ich gedacht hatte. „Bin mit Ihrer
Arbeit zufrieden, Panzerschütze Bögershausen. Der Chef auch. Setzen Sie sich!“ Auf einem der beiden Stühle an dem kleinen Tisch ließ ich mich nieder. Der Spieß bot mir eine Zigarette an. Ich kam aus dem
Staunen nicht heraus. „Danke, Herr Hauptfeldwebel. Ich rauche nicht.“ Meine Verwunderung über dieses ungewöhnliche Verhalten konnte ich nur schwer verbergen. „Haben Sie schon mal einen Brief
geschrieben?“ fragte er. Dumme Frage. „Jawoll, habe ich, Herr Hauptfeld.“ Was sollte das? „Über das, was ich Ihnen jetzt sage, wird die Schnauze gehalten. Haben Sie
verstanden?“ „Verstanden, Herr Hauptfeld.“ Er setzte sich mir gegenüber, faltete auf der Tischplatte seine Hände, lächelte mich freundlich an. „Heute hat meine Freundin Helga Geburtstag. Ich
komme hier nicht raus, kann nicht zu ihr. Ich möchte ihr Blumen schicken und einen Brief schreiben, habe aber ‘ne Sauklaue. Würden Sie diesen Brief für mich schreiben?“ Dem Spieß einen privaten
Gefallen tun! Donnerwetter! Das mußte nicht nachteilig sein. „Jawoll, Herr Hauptfeldwebel! Mit der Maschine?“ „Quatsch! Es soll ein vertraulicher Brief werden. Mit der Maschine geschriebene Liebesbriefe
sind eine Beleidigung für jede Frau. Merken Sie sich das auch für später, wenn Sie mal einen Liebesbrief schreiben wollen“, belehrte er mich. Aus seinem Spind nahm er einen jungfräulichen Briefblock –
Büttenpapier. „Haben Sie einen Füllfederhalter?“ Ich hatte. „Wollen Sie mir den Brief diktieren, Herr Hauptfeld?“ Er schüttelte den Kopf. „Schreiben Sie mal frei nach Schnauze, so, wie Sie
an Ihre Freundin schreiben würden!“ Ich grinste ihn an. „Verzeihung, Herr Hauptfeldwebel. Da muß ich überlegen und nachdenken. Das kann ich besser, wenn ich ungestört bin. Ich schreibe den Brief in der
Schreibstube.“ „Sind Sie verrückt? Das ist eine Sache nur zwischen uns beiden. Ich verpiß mich, dann sind Sie ungestört. Bin in einer halben Stunde wieder da. Reicht Ihnen das?“ „Ich will's
versuchen.“ Der Spieß ließ mich allein. Ich machte mich daran, meiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Einen Liebesbrief hatte ich noch nie geschrieben. Dafür hatten mir die Empfängerinnen gefehlt. Ich
kratzte mich am Kopf, fuhr mit den Fingern durch meine kurz geschorenen Haare, kaute an meinem Füller. Verdammt, auf was hatte ich mich eingelassen! Dann dachte ich an Gisela Schuster, ihren aufregenden Kuß.
Und plötzlich ging’s. Schon nach zwanzig Minuten war der Spieß wieder bei mir. „Fertig?“ fragte er erwartungsvoll. Er nahm das von mir beschriebene Papier, ging zum Fenster, las. Ich
beobachtete ihn gespannt. Er lächelte. „Bist’n toller Kerl, Bögershausen. Hätte ich nicht so schön hingekriegt.“ Erleichtert ließ ich die angehaltene Luft aus meinen Lungen. „Wollen Sie den
Brief unterschreiben, Herr Hauptfeld?“ Er schüttelte den Kopf. „Ihre Handschrift auf diesem Brief ist meine Handschrift. Helga soll denken, ich hätte ihn geschrieben.“ Ich setzte „Dein Dich
über alles liebender Hans“ an das Ende des Briefes. Er las den Brief noch dreimal, faltete ihn sorgfältig, schob das Blatt zufrieden in einen Umschlag, klebte ihn zu, gab ihn mir. Für diesen Nachmittag
bekam ich Ausgang. Und den Befehl, einen hübschen Blumenstrauß für zwei Mark, die der Spieß mir anvertraute, zu kaufen und Brief und Blumen zu einem von ihm beschriebenen Friseursalon in der Stadt zu bringen. Seine
Freundin war Friseuse. Donnerwetter, der Spieß hatte Geschmack. Wie war der nur an ein so hübsches Mädchen gekommen? Ich schätzte sie auf Anfang zwanzig. Der Spieß war Mitte dreißig – mindestens. Und nach
meiner Kenntnis in Duisburg verheiratet, hatte drei Kinder. Helga schob mich in eine versteckte Ecke.Sie las die Zeilen in meiner Gegenwart, errötete, ihre Zunge fuhr über ihre Lippen. „Daß Hans so zärtlich
schreiben kann. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut“, flüsterte sie. Ich war richtig stolz auf mich. „Danke schön“, sagte sie errötend. „Und grüßen Sie meinen Hans von mir. Sagen Sie ihm, ich freue
mich auf übermorgen.“ Sie gab mir zwanzig Pfennig Trinkgeld.
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