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Seidler, Gundel: Die Tür zum Hof. Erzählungen ISBN 3-933664-16-0
(11/2002) 104 Seiten, Ebr., EUR 11,00 / SFr 20,00
Unter dem Titel "Weit geöffnete Fenster" erschienen vor fünf Jahren die ersten Geschichten von Gundel Seidler. Es ging um Menschen, die
"zwischen den Zeiten" stehen und versuchen, sich neu zu verorten. Im hier vorgelegten zweiten Buch treffen wir wieder auf eine Frau, die mit suchender Selbstreflexion die Schnittstellen zwischen
persönlicher Biographie und Zeitgeschichte abtastet. Es geht um die Suche nach Identität, auch um die Prüfungen, denen wir von Kindheit an ausgesetzt sind, und die wir weiterhin zu bestehen haben. Dabei hat
besonders der Alltag mit seinen Freuden und hintergründigen Fallen seinen Platz. Die genaue Beobachtung dieses Alltages und das Beharren auf der individuellen Wahrnehmung machen die Stärke der Texte von Gundel
Seidler aus, an die sich die Leser halten können. Annette Simon
Inhalt
Willkommen und Abschied Willkommen und Abschied Blumenfest Zu wenig und zu viel Krankenbesuch Schlüsselerlebnis Die Maßnahme
Prüfungen Prüfungen Der Junge Kindermund Mutter, Vater, Kinder Zeit mit dem Dichter Ein Sohn Die Tür zum Hof Die Tür zum Hof Ilsebill Der Mai ist gekommen! Heiße
Himbeeren Grossmutter Das Geschenk Wolfgang Sturz Kater Munzel Die Märchenfrau – Versuch eines späten Portraits
Leseprobe
Die Tür zum Hof
Vom Fenster aus sieht sie in den Hof Der ist ja schon wieder kleiner geworden! Sie hatte gedacht, dass ihre Kindheitswelt aufhören würde zu schrumpfen, wenn sie nicht mehr wächst,
aber diesmal schien der Hof mit dem angrenzenden Garten und dem ehemaligen Waschhaus wieder kleiner geworden zu sein. Das sah ja aus wie die Umgebung eines Puppenhauses! Und dabei war dieser Hof früher so riesig
groß gewesen. In ihm hatten sie als Kinder eine Menge Platz für alle möglichen Spiele. Bei dem winzigen Gullideckel in der Mitte spielten sie: „Fischer, Fischer, wie hoch steht das Wasser?“ Was für ein
weiter Weg es bis zum rettenden Ufer war! Oder dort hinten auf dem kleinen Rasenfleck war Platz für heiße Wettspiele. Manchmal gab es auch harte Kämpfe. Wenn z.B. die geraubte Prinzessin befreit werden musste,
die an der Teppichstange angebunden war ... Lene war ziemlich spät von hier weggezogen, so mit fünfundzwanzig. Aber noch mal so lange wohnt sie jetzt schon woanders. Es wird gar nicht mehr so lange dauern,
bis sie selbst ein paar Größenzentimeter verliert – wahrscheinlich wird dann die Kinderheimat immer noch kleiner. Sie beugt sich weit aus dem Kammerfenster, um die Tür zu erkennen, die vom Treppenhaus in
den Hof führt. Das Kämmerchen war bis vor ein paar Jahren noch Außenklo, eine halbe Treppe über der Mietswohnung. Hier war es im Winter zwar eisig kalt, aber sonst war der Ort gut zum alleine Nachdenken, auch
zum ungestörten Ausheulen ... Sie kann die Hoftür sehen, aber sie kann sich kaum vorstellen, wie sie sie damals sah. Richtig eingeschüchtert hatte die sie! Lange hatte sie wachsen müssen, um zur Klinke zu
gelangen – und dann musste sie noch paar Jahre kräftiger werden, um sie alleine öffnen zu können. Richtig erniedrigend war das, wenn sie immer erst auf Erwachsene warten musste, die ihr halfen. Noch schlimmer,
wenn es ein größeres Kind tat. Am liebsten war ihr, wenn sie sich unauffällig zwischen andere Kinder gemischt hatte – und mit denen zusammen in den Hof konnte. Vom Hof zurück ging es besser, weil die Tür
nach innen zu öffnen war. Und wenn sie nicht eingeklinkt war, konnte man sich mit dem Rücken ranstellen und mit ganzer Kraft dagegen drücken. Also war es auch wichtig, beim Rausgehen darauf zu achten, dass die Tür
nicht ins Schloss viel. Wie oft hatte sie in letzter Minute möglichst unauffällig ihren Fuß dazwischengestellt – dann war der Rückweg schon leichter. An die Türklinke erinnert sie sich noch ganz genau.
Jetzt wird längst eine andere dran sein, von hier aus kann sie das nicht sehen. Bestimmt hat spätestens bei der Rekonstruktion jemand Gefallen an ihr gefunden und sie rechtzeitig abmontiert. Sie war eine Art
liegendes S, der Klinkenknauf rundete sich in Schneckenform. Dort, wo jeder anfasste, glänzte es golden, sonst war die Farbe schmutzig braun-grau. Und jetzt muss sie natürlich an den bewussten Winter denken:
Sie war im zweiten Schuljahr. An einem Tag war die Schule eher aus als sonst. Da sie keinen Schlüssel hatte und ihre große Schwester später kam, wollte sie erst mal im Hof nachsehen, ob da irgendjemand zum
Spielen war. Die schwere Tür zum Hof bekam sie seit kurzem alleine auf. Es war ein kalter, sonniger Tag. Kein Kind war zu sehen. Sie warf den Ranzen ab und versuchte einen Umschwung an der
Teppichklopfstange. Der klappte ganz gut. Schade, dass niemand zusah. So alleine machte das keinen Spaß. Sie ging zurück zur Tür. Die blanke Stelle der Klinke funkelte golden. Mit einem Mal – sie
weiß bis heute nicht, was da über sie gekommen war – wollte sie diese Stelle schmecken. Sie legte den halbgeöffneten Mund daran und ein Stück von der Zunge ... und klebte fest! Obwohl so viele Jahre
vergangen sind, spürt Lene sofort wieder den Schreck, der furchtbar war. Es dauerte bestimmt höchstens eine Minute, dass sie da so festgeklebt war, aber es kam ihr elend lange vor. Da war genug Zeit für viele
schlimme Gedanken, die kreuz und quer im Kopf herumwirbelten: „Das ist ja wie in so einem Märchen! ... Ob das jetzt eine Strafe ist? ... Jetzt muss ich wohl immer so hier kleben bleiben? ...Wenn jetzt jemand kommt
und mich so sieht! ... Mutti, hilf mir! ... Jetzt ist alles aus!“ Natürlich versuchte sie, Lippen und Zunge zu befreien, aber es ging einfach nicht. Es tat ja schon so weh. Sie hatte das Gefühl, als ob
ganze Stücke von ihrem Fleisch abgerissen würden, wenn sie noch heftiger zieht. Dann ging es plötzlich von ganz alleine. Sie war befreit. Aber der Schreck dauerte noch lange fort. Was war da gerade
passiert? Die Tür kann doch nicht lebendig werden? Ob vielleicht der Gott da oben gesehen hat, wie sie an der Klinke lecken wollte? Tante Änne hatte ja gesagt, der sieht alles ... Sie kauerte sich auf ihren
Ranzen, legte beide Hände auf den schmerzenden Mund und wollte sich nun so richtig ausweinen. Sie hörte jemanden im Treppenhaus und dann ging auch schon die Tür auf – ihre Schwester war gekommen. „Was
ist mit dir?“ Hat dir jemand was getan? Wenn ja, der kann was erleben ...“ Wie oft schon hatte die große Schwester sie beschützt und ihr aus der Not geholfen, aber diesmal war sie für Lene große
Schwester, Mutter und sogar Engel. Die Schwester fand ein weiches Taschentuch, mit dem sie die Tränen abtrocknete, und sie hatte viele liebe, beruhigende Worte. Nein, sie lachte ihre kleine Schwester kein
bisschen aus, sondern sah sich besorgt deren aufgerissenen Lippen an. Die Schwester wusste auch, dass das Festkleben keine Zauberei war. Das wäre nur durch die Kälte passiert. „Kaltes Eisen zieht warme Spucke
an, und dann klebt man solange fest, bis das Eisen warm genug geworden ist, um wieder loslassen zu können. Das ist wissenschaftlich bewiesen“, erklärte sie. Lene hat sich das gut gemerkt, auch jetzt noch
würde sie bei Kälte nie an Eisen lecken. Aber heute ist es überhaupt nicht kalt, eher frühlingshaft warm. Sie will endlich weg von diesem ganzen Kinderkram. Sie schließt das Fenster des Kämmerchens, das
schon lange kein Außenklo mehr ist, dann auch die schon immer kleine Tür, die jetzt grün angestrichen ist. Der Schlüssel ist noch derselbe von damals. Lene geht die halbe Treppe nach unten in die Wohnung, in
der noch immer ihre große Schwester lebt.
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